Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen  
     Dr. Michael Greve:
     Die bundesdeutsche Strafverfolgung von NS-Verbrechen
 
     50 Jahre bundesdeutsche Strafverfolgung von NS-Verbrechen
                 
   

 

 

 
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ie Strafverfolgung von NS-Verbrechen
 
     Die bundesdeutsche Strafverfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen nähert sich nach mehr als 60 Jahren dem Ende. Am 23.03.2010 verurteilte das Landgericht Aachen in einem der wohl letzten NS-Prozesse den heute 88 Jahre alten Heinrich Boere wegen Mordes zu lebenslanger Haft. Das Landgericht konnte dem Angeklagten nachweisen, 1944 in den Niederlanden als Mitglied der Waffen-SS mindestens drei niederländische Widerstandskämpfer heimtückisch ermordet zu haben. Anders als in zahlreichen NS-Prozessen in den 60er Jahren führten die Richter in der mündlichen Urteilsbegründung aus, dass sich Boere weder auf den Befehlsnotstand noch darauf berufen könne, den verbrecherischen Charakter seines Tuns nicht erkannt zu haben. Nach Überzeugung des Gerichts sei Boere ein Fanatiker gewesen und habe die Morde aus eigener Überzeugung begangen, mithin eine Argumentation, der sich zahlreiche Gerichte in den 50er und 60er Jahren verschlossen.

     Zuvor hatte das Landgericht München am 11.08.2009 den 90jährigen Josef Scheungraber wegen der Ermordung von 10 italienischen Zivilisten in der Toskana im Juni 1944 zu lebenslanger Haft verurteilt. Anfang Juli 2002 verurteilte das Landgericht Hamburg den 93-jährigen Friedrich Engel wegen der Anordnung zur Ermordung von 59 italienischen Geiseln im Mai 1944 zu einer siebenjährigen Haftstrafe. Zuvor hatte das Landgericht Ravensbrück Anfang April 2001 den ehemaligen SS-Offizier Julius Viel wegen der Ermordung von sieben jüdischen KZ-Häftlingen im Frühjahr 1945 zu 12 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

     Gegen den gegen den ehemaligen KZ-Aufseher in Sobibor, John Demjanjuk, wird seit 2009 vor dem Landgericht München wegen Beihilfe zum Mord an 29.000 Juden weiterverhandelt. Allerdings ist es fragllich, ob die bislang vorliegenden Beweise zu einer rechtskräftigen Verurteilung führen werden.

     Eine wichtige Rolle bei der Strafverfolgung von NS-Verbrechen spielt bis heute die "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen", bei der im April 2001 noch über ein Dutzend Vorermittlungsverfahren anhängig war.

     Die Landesjustizminister hatten die Zentrale Stelle im Oktober 1958 nicht zuletzt im Hinblick auf die Strafverfolgungsversäumnisse der fünfziger Jahre gegründet. Vor allem die im Osten begangenen Verbrechen, die bis dahin nur marginal geahndet wurden, sollten nun systematisch verfolgt werden. Von den Ludwigburger Ermittlungen erhofften sich die Justizminister außerdem einen raschen Schlussstrich unter die Strafverfolgung der NS-Verbrechen. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass sich die Ermittlungen bis ins 21. Jahrhundert erstrecken würden. Seit November 1958 hat die Zentrale Stelle, die selbst über keine Exekutivbefugnisse verfügt, nahezu 7.200 Vorermittlungsverfahren an die Strafjustiz weitergeleitet. In den meisten Fällen kam es nicht einmal zur Anklageerhebung. Die bundesdeutsche Justiz reagierte auf die Ludwigburger Ermittlungswelle mit Verfahrenseinstellungen en masse, zahlreichen Freisprüchen und einer milden Urteilspraxis. Daran konnte auch das Bemühen einzelner Strafermittler, Staatsanwaltschaften und Gerichte um eine konsequente Strafverfolgung nichts ändern.

KL Dachau     Die Versäumnisse und Fehlleistungen bei der NS-Strafverfolgung werden heute kaum noch ernsthaft bezweifelt. Der Bochumer Historiker Norbert Frei bezeichnet sie als regelrechtes "Desaster" und der baden-württembergische Justizminister Ulrich Goll (FDP) sprach jüngst von Gerichtsurteilen, die in "geradezu skandalöser Weise versucht haben, nationalsozialistische Verbrecher, wenn nicht ganz freizusprechen oder außer Verfolgung zu setzen, so doch nur mit milden Strafen zu belegen." Die Strafverfolgungsbilanz der westdeutschen Gerichte spricht ebenfalls eine deutliche Sprache. Seit dem 8. Mai 1945 wurden gegen 106.494 Personen Ermittlungs- und Vorermittlungsverfahren eingeleitet, von denen lediglich 6.495 rechtskräftig verurteilt wurden. Die übrigen Verfahren endeten mit teilweise äußerst fragwürdigen Verfahrenseinstellungen und Freisprüchen.

[Informationen zur ostdeutschen Strafverfolgung von NS-Verbrechen können Sie im Bericht über die Fachtagung zu den ostdeutschen Strafverfahren wegen NS-Tötungsverbrechen am 25.10.2002 in Berlin erhalten.]
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